"Anno 1914" im Detail
Zum Start der vom Schweizer Fernsehen produzierten Sendung "Anno 1914", wollen wir es natürlich nicht unterlassen, einen kleinen Einblick in die Zeit der späten Belle Epoque zu wagen und hinter die Kulissen unserer Vorbereitungen für die Sendung zu blicken, welche wir mit Kleidern und Accessoires, sowie vielen persönlichen Utensilien für die Schauspieler und Protagonisten unterstützt haben.
In unserem Laden-Geschäft an der Schützenmattstrasse 37 in Basel, wurde zudem für die Sendung "Sabine Dahinden anno 1914" ein Teil der 2. Sendung aufgezeichnet, welche jeweils am Montag ab 20:50 auf SRF 1 ausgestrahlt wird.
Den Beitrag finden Sie unter folgendem Link: SRF Sabine Dahinden anno 1914 vom 11. August 2014
Die Villa in Bauma (Rechts) und das dazugehörige Wäschehaus - Webstühle in der Farbik, welche sich gleich vis-a-vis der Villa befinden
Stil & Etikette
Um etwas in die Zeit eintauchen zu können, gehört natürlich nicht nur die richtige Kleidung, sondern auch etwas an Grundwissen in Sachen Etikette. Unser Geschäftsführer, Patrick Schlenker war an mehreren Tage für SRF und Sabine Dahinden als historischer Berater für Stil & Etikette im Einsatz. Folgend ein paar ausgesuchte Themen in Etkette jener Tage. (ist natürlich nicht abschliessend und nur ein kleiner Einblick in die Gesellschaft jener Tage)
Herren
1. Bekleidung
Der gutbürgerliche Herr trägt tagsüber ein Sakko, einen Gehrock oder, wenn der Anlass gesellschaftlicher Natur ist, den davon abgeleiteten Cutaway aus Wollstoff. Bei kaltem oder schlechtem Wetter zieht er einen Mantel mit oder ohne Cape darüber. Dazu setzt er einen Bowler (Melone) oder einen Zylinder auf. Die Weste unter dem Jackett oder Gehrock kann schwarz oder grau, beim Cut auch farbig sein. Dazu ein weisses Hemd, bei dem die Ärmel mit Manschettenknöpfen geschlossen werden, sowie eine Krawatte. Die Hose kann in der Farbe gleich sein wie das Jackett, oder schwarz-grau gestreift. Cut und Gehrock werden nicht bei gesellschaftlichen Abendanlässen getragen, dort ist der Frack angezeigt. Zum Frack werden eine weisse Weste und Fliege getragen. Die Hose ist aus demselben Stoff wie der Frack und weisst keine Bügelfalte auf. Das weisse Hemd ist mit einem Kläppchenkragen, Manschetten und einer gestärkten Brust ausgestattet, welche beim klassischen Frackhemd angeknöpft wird. Manschettenknöpfe sind eine Selbstverständlichkeit. Für den Herrn gilt es als unschicklich, sein Haar und seinen Bart zu färben sowie allzu starken Gebrauch von Kosmetikartikeln wie Haaröl und Pomade zu machen. Da seine Erscheinung immer gepflegt und anständig sein sollte, gehört es sich nicht, wenn sich der Herr hemdsärmelig in der Öffentlichkeit zeigt. Weder gehören die Hände in die Hosentaschen, noch die Daumen in die Armlöcher der Weste. Die Schuhe sollten immer sauber geputzt sein. Hüte werden gerade auf den Kopf gesetzt und nicht ins Genick gedrückt oder zu sehr über die Augen gezogen.
2. In Innenräumen
Begibt sich der Herr in einen geschlossenen Raum, nimmt er unverzüglich seine Kopfbedeckung ab. Ist die Örtlichkeit ein Restaurant, Hotel oder ein Privathaus, in welchem er Gast ist, gibt der Herr dem Bediensteten - wenn es einen gibt - seine Kopfbedeckung und seinen Mantel. Wenn vorhanden, ebenfalls seine Handschuhe, den Schal und den Spazierstock. Gibt es im besuchten Haus keinen Bediensteten, hängt der Herr die Kleidungsstücke an die Garderobe. Gehrock, Cut oder Jackett werden nicht ausgezogen; beim Hinsetzen sollten diese aufgeknöpft werden. Verlässt der Herr die Lokalität wieder, übernimmt er vom Bediensteten seine Bekleidungstücke, welche er bis auf die Kopfbedeckung im Haus anzieht. Den Hut setzt er erst auf, wenn er aus dem Gebäude auf die Strasse tritt.
3. Grüssen auf der Strasse
Das Grüssen auf der Strasse hängt vom gesellschaftlichen Stand eines jeden Bürgers ab. Niemals darf ein im gesellschaftlichen Rang tiefer stehender Bürger einen Höherstehenden zuerst grüssen. Der Tieferstehende muss warten, bis er gegrüsst wird, erst danach darf er den Gruss erwidern. Gegrüsst wird mit dem Lüften des Hutes, als Zeichen der Anerkennung unter Gleichgestellten und beim Gruss einer Frau als Wertschätzung. Der Griff an die Hutkante ohne Lüften des Hutes gilt als normaler Gruss. Trägt der Herr einen Spazierstock, gehört dieser nicht geschultert. Er könnte ansonsten einen Mitmenschen verletzen.
Während der Promenade sollte man weder singen noch pfeifen oder etwas essen. Auch lautes Lachen oder Brüllen gehört sich nicht, erst recht nicht ohne triftigen Grund. Menschen, die über alles und jeden lachen, werden für dumm gehalten. Das Gähnen sollte der Herr in aller Öffentlichkeit unterdrücken, denn in Gesellschaft würde es bedeuten, dass ihn die anwesenden Personen langweilen.
4. Bei Tisch
Wie zu jeder Zeit ist der Herr der Dame zuvorkommend. Prinzipiell sitzt der Herr links neben der Dame, resp. die Dame rechts vom Herrn. Der Herr ist der Dame sowohl beim Hinsetzen wie auch beim Aufstehen behilflich. Wenn eine Dame aufsteht, erheben sich ihr Tischherr ebenfalls kurz als Zeichen ihrer Wertschätzung. Verabschiedet sich eine Dame, so stehen alle Herren des Tisches auf.
Ein Anstossen der Gläser gibt es nicht. Man prostet sich gegenseitig mit Blickkontakt zu, jedoch ohne die Gläser klingend anzustossen und „Prost“ zu sagen.
5. Handkuss
Der Handkuss kommt nur in Räumen zum Tragen, und auf Bahnsteigen. Im Freien wird die Hand ansonsten nicht geküsst, sondern man reicht sich die Hand. Die Hand der Dame wird nicht geschüttelt, nur gehalten, und zwar gleich wie beim Handkuss. Zum Handkuss nimmt der Herr die dargebotene Hand der Dame und beugt sich leicht, ähnlich einer Verbeugung darüber. Die Lippen des Herrn verharren für einen kurzen Augenblick ein paar Zentimeter über dem Handrücken der Dame. Die Lippen berühren niemals die Hand, es sei denn, es handelt sich bei der Dame um die eigene Ehefrau oder der Herr will seiner Angebeteten seine Liebe erklären.
Damen
1. Bekleidung
So unterschiedlich die Damenmode der Belle Epoque ist, so variantenreich zeigt sich auch die der Gesellschaftlichen Damen unterschiedlicher Stände. Da gibt es Morgenkleider, Promenaden- oder Reisekostüme, Tages und Teekostüme, um nur ein paar Modelle zu nennen. Die Dame von Welt zieht sich jeweils passend zum Anlass um, ohne jedoch der modernen Mode sklavisch zu folgen. Je später in der Belle Epoque, desto grösser und opulenter werden die Hüte, ebenso die Frisuren. Die Handschuhe, welche jede Dame in Gesellschaft trägt, zieht sie nur zum Essen oder Kartenspielen aus. Der Damenhut wird - anders als bei den Herren - beim Betreten eines Gebäudes nicht abgenommen.
2. Benehmen der Dame
Die Dame des aufstrebenden Bürgertums benimmt sich vornehm und elegant. Es ist für sie nicht schicklich, mit den Herren über wirtschaftliche und politische Belange zu diskutieren. Die Frau weiss, wo ihr Platz in der Familie ist; nämlich an der Seite ihres Mannes, welcher sie finanziell absichert. Dazu soll die bürgerliche Dame durch ihr gepflegtes, modisches Erscheinungsbild den familiären Wohlstand repräsentieren, dies heisst aber nicht, dass sie sich mit übermässig viel Schmuck behängt. Im Gegenteil: Wenige, aber exquisite Stücke zeugen von gutem Geschmack. Sie schminkt sich mit Ausnahme von Gesichtspuder nicht und trägt nur dezent Parfum. Sich um die Erziehung der Kinder kümmern und den Haushalt besorgen, dies mit Hilfe ihrer Bediensteten. Die Dame teilt die Ansichten ihres Gatten und widerspricht nicht. Es gilt als sehr unschicklich, wenn die Dame allzu viele Romane liest, denn dadurch würde ihr Geist abgestumpft und die Dame verbildet.
3. Bei Tisch
Begibt sich ein Paar oder eine Gruppe mit Damen zu Tisch, geht immer ein Mann voraus, entweder der Ober oder einer der Herren. Die Dame sitzt rechts neben ihrem Tischherrn. Sie lässt sich den Stuhl heranschieben und nimmt dann darauf Platz. Möchte die Dame aufstehen, kann sie den Herrn mit der an den ganzen Tisch gerichteten Bemerkung „würden Sie mich bitte entschuldigen“ darauf aufmerksam machen (normalerweise reicht jedoch nonverbale Kommunikation, z.B. die Serviette vom Schoss nehmen und auf den Tisch legen). Für den Herrn ist das das Zeichen, aufzustehen und der Dame den Stuhl beiseite zu rücken.
Man setzt sich aufrecht hin und stützt sich nie, nie mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab.
4. Grüssen auf der Strasse
Wenn sich eine allein gehende Dame und ein Herr begegnen, grüsst immer der Herr zuerst, niemals die Dame, denn dies könnte missverstanden werden. In Gesellschaft sollte sich die Dame beim Herrn bedanken, wenn er ihr einen kleinen Dienst erwiesen hat, ihr zum Beispiel den letzten Platz in der Bahn überliess.
5. Handkuss
Alleine die Dame entscheidet, ob der Herr ihr die Hand küssen darf oder nicht. Hält die Dame die Hand nicht entgegen, wünscht sie keine Berührung. Prinzipiell steht der Handkuss jedoch nur Damen zu, die verheiratet oder älter als 30 sind.
Persönliches aus dem Alltag
Um die Fabrikanten-Villa in Bauma wieder in die 1910er Jahre zurück zu verwandeln, waren nicht nur die Mitarbeiter des TPC gefordert, sondern auch wir als Verleiher. Historisch korrekte Zahnbürsten, Zahnpasta und Zahnputzpulver, Rasierhobel, Unterwäsche, Kämme, Kernseifen, Tintenfässer, Schulbücher und Tornister, ein 20 Kilogramm schweres Kassenbuch von 1914, um nur ein paar Beispiele zu nennen, wurden benötigt. Alles Teile, welche man nicht einfach um die Ecke im nächsten Supermarkt besorgen konnte. Durch unsere langjährige Erfahrung in Sachen Living History, resp. lebendiger Geschichtsdarstellung, konnten wir jedoch ohne grössere Probleme das benötigte Material liefern.
Dazu gehören zum Beispiel auch sämtliche Etiketten für Wein, Champagner und Spirituosenflaschen. Dies geschah in Zusammenarbeit mit Altlas Repro Paperwork aus Holland.
Labels für Wein, Champagner, Spirituosenflaschen und Schokolade
Blick ins Badezimmer anno 1914 in der Villa
Um die unterschiede in den gesellschaftlichen Schichten aufzuzeigen, wurde bei den Fabrikanten das zu jenen Tagen modernste Material eingesetzt. Ein typisches Beispiel dafür sind die Rasierer. So rasiert sich der Arbeiter noch mit einem klassischen Rasiermesser, während der Fabrikant und sein Sohn schon mit den modernen Rasierhobeln der US amerikanischen Firma GEM rasierten, welche 1912 patentiert wurden.
Links: Rasiermesser - Rechts: Rasierhobel der Firma GEM von 1912
Folgend einige ausgesuchte Utensilien aus unserem Fundus, welche man in der Produktion "Anno 1914" zu sehen bekommt.
Links: Stereoscope mit Fotos - Rechts: Schulranzen, Schiefertafel und Kinderschulbücher anno 1914
Links: Stärkemittel der Firma Hoffmann's Stärke von 1910 - Rechts: Brillen unterschiedlicher Ausführung
Links: Zahnputzpulver und Zahnbürste um 1910 - Rechts: Ball-Utensilien für die Dame - Glacehandschuhe; Ansteckuhr, Tasche und Geldbörse.
Letzte Vorbereitungen
Um die Schauspieler auf ihre Rollen vorzubereiten, war Patrick Schlenker einen Tag vor dem Drehstart nochmals in Bauma, um zusammen mit den Schauspielern vor Ort in der Villa unterschiedliches in Stil & Etikette zu besprechen.
Bericht von SRF Schweiz Aktuell vom 1. August 2014: Bauma Zwischen 2014 und 1914
Tischgebet anno 1914
Drebeginn 10. Mai 2014 Bäretzwil
Zum Drehstart am 10. Mai waren mehrere Personen aus unserem Umfeld aufgeboten, welche die Statisten vor Ort zu verstärken sollten. Die Eisenbahner der Dampfbahn-Verein Zürcher Oberland verfügten zudem über die nötige Kulise und fahrbahren Untersatz.
Weitere Fotos aus der Produktion, werden wir nach der Ausstrahlung der Sendung veröffentlichen.
Wir sind sehr auf das Endresultat gespannt und stehen immer gerne für Fragen zur Verfügung.
Weiteres zum Projekt findet man natürlich auch auf der Webseite des Schweizer Fernsehens SRF "Anno 1914"