22. November 1944
Weitere Kämpfe im Dreiländereck
Milchiggrau und beinahe undurchsichtig liegt ein Herbstnebel über der elsässischen Grenzgegend. Beim Zollamt Lysbüchel warten noch immer elsässische Flüchtlinge auf den Übertritt, der ihnen jedoch erst gestattet wird, wenn die Lage ernster wird.
Am Morgen, kurz vor Tagesanbruch, kehrt ein Trupp deutscher Soldaten unbemerkt zur gestern geräumten Garde-Mobile-Kaserne in St. Louis zurück, um einen zurückgelassenen Militärlastwagen zu bergen.
Gerade als die Deutschen den Wagen starten, wird der Handstreich von der FFI bemerkt. Die Franzosen nehmen die davonfahrenden Soldaten unter Gewehrfeuer, jedoch ohne Erfolg.
Um 11:40 Uhr beginnt aus dem Raum Belfort-Altkirch ein intensives Trommelfeuer. An der Peripherie von Basel erzittern die Häuser, und das Vibrieren der Erde ist spürbar. Kurze Zeit später sind auch schwere Artilleriesalven aus der Richtung von Mulhouse zu hören. Den donnernden Geräuschen zufolge schlagen diese Geschosse etwa 15 bis 20 Kilometer nordwestlich von Basel ein, in der Gegend von Sierenz und Habsheim.
Spuren des Gefechtes in der Nähe des Grenzübergang Lysbüchel in St. Louis - Das Foto wurde 1944 von der Militärzensur unter Verschluss gehalten - Foto Privatarchiv Patrick Schlenker
Die Gefechte weiten sich aus, und die französische Artillerie greift erneut das Wiesental in der Nähe von Stetten und Lörrach an. Dabei kommen auch Sturmgeschütze aus der Sundgaubügel-Region und erstmals Geschütze aus Istein zum Einsatz. Eine kurze, aber intensive Salve aus dieser Richtung deutet auf einen Versuch hin, die Feuerkraft der deutschen Verteidigung zu verstärken.
Kurz nach 14 Uhr erschüttert eine heftige Detonation die Garde-Mobile-Kaserne. Eine zweite und dritte folgen, danach detonieren in schneller und ununterbrochener Folge weitere Explosionen.
Die deutschen Truppen eröffnen schweres Minenwerferfeuer auf das umstrittene Kasernengelände, das französische Panzerstreitkräfte am Vormittag nach kurzer Schiesserei eingenommen haben. Etwa eine halbe Stunde lang geht das Minenwerferfeuer nieder – mal zu kurz, mal zu lang, zwischendurch aber mit schweren Treffern. Staub wirbelt auf, getroffene elektrische Leitungen funken, und zerborstene Dachziegel sausen in den Hof.
Kurz darauf rattert heftiges Maschinengewehrfeuer gegen einen grossen schwarzen Schuppen am Nordrand des Geländes. Schwere Salven schlagen in die Schiessscharten ein, während dazwischen einzelnes Gewehrfeuer knallt. Aus dem elsässischen Hinterland donnern schwere französische Geschütze, und nach wenigen Sekunden sind Einschläge aus Weil-Leopoldshöhe und Haltingen zu hören.
Um etwa 14:30 Uhr eröffnen französische Panzer von zwei Seiten das Feuer auf die alte Hüninger „Schiffmühle“ und die ehemalige chemische Fabrik am Rhein, in der sich vermutlich deutsche Truppen befinden. Eine halbe Stunde lang wechseln Maschinengewehrsalven und Schüsse aus Panzergeschützen einander ab, bevor eine kurze Gefechtspause eintritt.
Ob dies der Beginn eines umfassenden Angriffs auf die eingeschlossenen deutschen Truppen in Hüningen ist oder nur ein vorsichtiges Abtasten, bleibt unklar.
Artilleriefeuer auf Hüningen
Um 15:25 Uhr beginnen schwere französische Batterien mit der Beschiessung von Hüningen. Salve um Salve schlägt ein, nachdem die Franzosen zuvor mit Nebelgranaten das Ziel eingeschossen haben. Zunächst treffen die Geschosse den Stadtrand, dann das Innere der Stadt, wo gewaltige Rauchwolken aufsteigen. Rings um den Lysbüchel erzittern die Häuser unter der Wucht der Detonationen.
Hüningen unter Beschuss - Foto Privatarchiv Patrick Schlenker
Die Kiesgrube zwischen St. Louis und Hüningen wird ebenfalls mit Nebelgranaten eingehüllt.
Zur selben Zeit erschüttert eine gewaltige Detonation die Luft. Entweder explodiert eine Mine direkt vor der Garde-Mobile-Kaserne oder ein Munitionslager wird getroffen. Der genaue Sachverhalt bleibt zunächst unklar.
Um 16:00 Uhr entwickeln sich auch Bodenkämpfe. Zwischen den deutschen Besatzungen der Rheinbunker und angreifenden leichten motorisierten französischen Streitkräften entbrennen Gefechte. Die Franzosen setzen Maschinengewehre, Gewehre, Minenwerfer, kleinere automatische Waffen und Panzerfäuste ein. Aus der Garde-Mobile-Kaserne heraus schiessen sie auf das Gelände der Geigy-Fabrik, das oberhalb des Rhein-Rhône-Kanals nahe der Schweizer Grenze liegt.
Fährverkehr bei Hüningen wieder aufgenommen
Nachdem das Fährboot, das seit der Zerstörung der Hüninger Schiffsbrücke den Verkehr zwischen dem badischen und dem elsässischen Ufer übernommen hatte, am Montag und Dienstag durch Artilleriebeschuss zerstört worden war, nimmt heute, am Mittwochmorgen, ein neues Boot den Betrieb wieder auf. Lange Kolonnen von Flüchtlingen, meist Deutschen, warten geduldig auf ihre Ausschiffung über den Rhein. Auf dem Weg zur Anlegestelle hatten die zurückweichenden Deutschen, die anscheinend in den letzten Tagen weitgehend auf sich selbst angewiesen waren, teilweise ganze Viehherden vor sich hergetrieben. Doch je länger der Weg dauerte, desto mehr Herden wurden aufgegeben oder von der Bevölkerung übernommen. Bereits in den frühen Stunden des Tages setzen kleinere Gruppen von etwa 15 Soldaten lebhaft über den Rhein von Friedlingen nach Hüningen über.
Aus dem Hauptquartier von General Eisenhower (United Press)
Ausweitende Kampfhandlungen nördlich von Basel. Laut Frontberichten hat das deutsche Oberkommando Verstärkungen in die Region entsandt.
Die Erste Französische Armee, die inzwischen den Rhone-Rhein-Kanal überschritten und Teile von Mulhouse eingenommen hat, muss mit massiven deutschen Gegenangriffen rechnen. Bereits gestern Nachmittag begannen deutsche Truppen mit einer Reihe von Gegenschlägen, die laut unbestätigten Berichten sogar zur Rückeroberung einer Ortschaft zwischen Belfort und dem Rhein führten.
Am heutigen Nachmittag wird ein deutscher Gegenangriff in einem Frontbericht thematisiert. Ein Korrespondent meldet nach Gesprächen mit einem hohen Offizier, dass diese Angriffe wohl nicht entscheidend sein dürften, da französische Verstärkungen über die Burgundische Pforte heranströmen.
Die französischen Offiziere zeigen sich zuversichtlich, dass die deutschen Gegenangriffe nicht zur Rückgewinnung des verlorenen Terrains führen. Die französischen Kräfte bereiten sich darauf vor, ihre Positionen zu halten und ihre Offensive fortzusetzen.
Situation in Belfort
Belfort bleibt ein Schauplatz heftiger Kämpfe. In der Zitadelle halten rund 40 deutsche Soldaten die Stellung und beschiessen weiterhin die Stadt mit Artillerie und Mörsern. Die Kapitulation wird verweigert, während amerikanische Truppen Massnahmen ergreifen, um den Widerstand zu brechen.
Das Fort Valdoie in der Nähe von Belfort konnte am Dienstag von marokkanischen Tirailleurs eingenommen werden. Diese Truppen hatten bereits zuvor entscheidende Siege in Italien errungen, als sie die Gustav-Linie bei Garigliano durchbrachen. Ihre Verluste bei der Einnahme des Forts waren vergleichsweise gering, während die deutschen Truppen erhebliche Verluste erlitten.
Gefechte im Jura
Im Gebiet von Lepuix kommt es zu heftigen Kämpfen zwischen einem deutschen Verband, der auf etwa 15.000 Mann geschätzt wird und in dieser Gegend eingeschlossen ist, sowie französischen Einheiten. Das Kampfgebiet liegt unweit der Schweizer Grenze. Die Deutschen setzen alles daran, bis an die Grenze zu gelangen, um die Nachschublinie der französischen Truppen zu durchschneiden, die entlang der Grenze verläuft. Die französische Artillerie, die bei Delle Stellung bezogen hat, beschiesst ununterbrochen die von den Deutschen besetzten Linien. Die Deutschen haben die beiden Dörfer Suarce und Lepuix zurückerobert.
In der Grenzregion zwischen Basel und dem Pruntruterzipfel flüchtet die Bevölkerung in Massen in die Schweiz. Die Lage ist angespannt.
Das Alliierte Oberkommando meldet, dass die Erste französische Armee Mulhouse besetzt hat. Laut Frontberichterstattern haben die Franzosen in Mulhouse etwa 1.000 Gefangene gemacht, darunter auch einen Teil des Stabes der 19. deutschen Armee. Im Bereich der Mülhauser Kasernen leisten vereinzelte deutsche Detachements noch Widerstand.
Schäden und Flüchtlinge in Basel
Der Grenzverkehr von der Schweiz nach Baden wird von deutscher Seite vollständig gesperrt.
Zum wiederholten Mal wurde der Siloturm in der Nähe von Hüningen getroffen, und auch die Reederei AG erlebte ähnliche Schäden. Schliesslich schlug eine Granate in einen grossen Drehkran ein. Weitere Geschosse explodierten im Rhein, und auch eine der Bahnbrücken, die über die Wiese führt, erhielt einen direkten Treffer, was dazu führte, dass die schweren Eichenbäume am Ufer in Brand gerieten. Die Tankanlagen wurden ebenfalls beschossen, waren jedoch zu dieser Zeit leer.
Gleich zu Beginn der Panzerangriffe auf deutsche Bunker und Feldstellungen bei Hüningen fiel eine Panzergranate in die Ackerstrasse und explodierte mit einem heftigen Knall, glücklicherweise ohne grösseren Schaden anzurichten. Auch am Wiesendamm 62 und 64 landete ein Geschoss und zertrümmerte zwei Fensterscheiben einer Parterrewohnung. In der gleichen Strasse scheint ein weiteres Geschoss auf einer Terrasse eingeschlagen zu sein, wodurch Schranktüren beschädigt wurden. Auch im Kleinhüninger Areal der Ciba landete eine Granate, die Schäden an der Gleisanlage verursachte. Spät abends fielen Granatensplitter in der Nähe des Schweizerischen Zollamts im Badischen Bahnhof. Aufgrund dieser wiederholten Angriffe auf das untere Kleinbasel und das Elsässerquartier mussten verschiedene Vorkehrungen getroffen werden, um die Zivilbevölkerung zu schützen.
So stellte die Chemische Fabrik vorm. Sandoz ihren Betrieb in den an der Grenze gelegenen Fabrikationsräumlichkeiten ein. Auch die Tramlinien, wurden eingestellt, da das Depot Wiesenplatz und die Umgebung wiederholt getroffen worden waren. Die Tramwagen wurden vor dem Badischen Bahnhof, an Endstationen und an weniger exponierten Orten über Nacht abgestellt. Es kann fast als ein Wunder bezeichnet werden, dass die Einschläge keine Opfer gefordert haben.
Um 15:40 Uhr explodierte eine Granate auf der Matte bei der „Bändelgasse“ zwischen Klybeck- und Gärtnerstrasse nahe dem Depot Wiesenplatz. Splitter und aufgeworfene Erde schlugen auf das Depotdach ein und beschädigten die Einfriedung der Matte.
In der Folge wurden aus Kleinhüningen zahlreiche Kinder nach anderen Orten der Stadt evakuiert, und auch die Bewohner der Aussenquartiere der Stadt wurden von militärischer Seite aufgefordert, die Keller aufzusuchen.
Schäden:
- 12:45 - Hegenheimerstrasse 37
- 16:15 - Kleinhüningerstrasse 188
- 14:00 - Westquaistrasse 12 - Rheinische Kohlen-Umschlags AG Basel
- 14:00 - Uferstrasse 80 - Standard Mineralölprodukte AG
- 14:00 - Uferstrasse 90 - Benzin- & Petroleum AG
- 14:15 - Wiesendamm 62 & 64
- 15:40 Uhr Bändelgasse
Im Verlauf des Tages ziehen mehrere Kolonnen von Flüchtlingen aus der badischen Nachbarschaft, begleitet von Schweizer Soldaten, durch die Peripherie von Basel. So wird beobachtet, dass ein Trupp von Evakuierten aus Weil am Rhein, die von den Langen Erlen kommend zum Grenzübergang am Hörnli marschieren, unter Begleitung von Soldaten zieht. Sie führen auf Handwägelchen und von Kühen gezogenen Fuhrwerken ihre Habe mit sich. Auf einem der Wagen sitzt ein zitternder Greis, auf dem anderen eine alte Frau. Die Flüchtlinge, hauptsächlich Frauen und Kinder, machen einen niedergeschlagenen Eindruck. Einige erzählen weinend, dass sie gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen, weil sie sonst nicht entkommen wären. Gerüchten zufolge sieht es in der Gegend von Weil und Haltingen nach den Beschiessungen durch die französischen Geschütze sehr schlimm aus.
Deutsche Flüchtlinge mit Hab und Gut auf der Flucht von den Kämpfen - Foto Privatarchiv Patrick Schlenker
Territorial-Kommando Basel
Aus den Berichten der Schweizer Armee ist Folgendes zu entnehmen:
00:10 Uhr: 150 Personen, darunter Kinder, wurden von der Grenze Burgfelden zur MUBA gebracht.
09:00 Uhr: Reg. Kdt. Ludwig auf KP zur Orientierung. Anschliessend Rundfahrt mit dem Territorial-Kommandanten.
10:50 Uhr: Redakteur der Basler Nachrichten teilt mit, dass gemäss seinen Informationen im Raum St. Louis französische Infanterietruppen eingeschlossen seien. Schwerpunkt des französischen Angriffs soll sich gegen die Kirche von Hésingue richten.
11:30 Uhr: Artilleriefeuer aus Richtung Volksberg nimmt zu.
12:45 Uhr: Rapport
Massnahmen betreffend eines eventuellen Angriffs auf Hüningen:
- Über den Nachmittag wurden alarmiert: Luftschutz-Kompanie 8, Ciba, Sandoz, Bell, ACV (Coop), Schweizerhalle.
- Lautsprecherwagen steht bereit. Polizeiposten Kleinhüningen dient zur Orientierung der Bevölkerung.
- Kompanie Spiegelhof wird genutzt, da kein zweiter Lautsprecherwagen zur Verfügung steht.
14:00 Uhr: Rapport
- Orientierung über die Lage.
- Flüchtlingsfragen.
14:00 - 17:30 Uhr: Beobachtungsposten Siloturm meldet:
- Garde Mobile-Kaserne St. Louis unter Artilleriefeuer.
- Artilleriefeuer auf Bahnhof Haltingen und Friedlingen.
- Artilleriefeuer auf Geigy-Fabrik hinter Rheinufer.
- Mehrere französische Panzer in der Garde Mobile-Kaserne St. Louis gesichtet.
- Nach Einschlägen von Nebelgranaten vorübergehend starker Beschuss der Kiesgrube St. Louis gegenüber Silo und des Kanals.
- Einschläge auf Kohlenhaufen Hafen Kleinhüningen, Beschuss der Wiesenbrücke und BP-Tankanlage. Ferner Einschlag auf Wiesendamm bei Ciba Kleinhüningen und Niedergehen von Geschosssplittern an verschiedenen Stellen des Hafengebiets.
17:40 Uhr: Es wird auf Anfrage des Territorial-Kommandanten autorisiert, den Personen, die während des Artilleriebeschusses im Freien arbeiten müssen, Stahlhelme auszuleihen.
Nachmittag: Alle aufgebotenen Luftschutzeinheiten bereit.
Im Einsatz - Passiver Luftschutztruppe (Feuerwehr) - Foto Privatarchiv Patrick Schlenker
20:20 Uhr: Starker Artilleriebeschuss aus Richtung Hüningen und St. Louis.
20:30 Uhr: Neben Artilleriefeuer auch MG-Gefechtsfeuer hörbar aus Richtung St. Louis.
21:20 Uhr: Artilleriebeschuss auf Friedlingen.