24. November 1944
Befreiung Strassburg
Das aussergewöhnlich schlechte Wetter behindert die alliierten Luftstreitkräfte erheblich und erlaubt nur einen eingeschränkten Einsatz von Fliegerverbänden. Dies spielt den Deutschen vor allem an den nördlichen Frontabschnitten in die Karten. In der Oberrheinebene jedoch schreitet die Offensive der Generäle Delattre de Tassigny und Patch trotz widriger Bedingungen weiter voran.
Französische Panzertruppen rücken bis an die Vororte von Strassburg vor und dringen im Laufe des Tages tief in die Stadt ein. Ein Kriegsberichterstatter meldet: „Die französischen Streitkräfte, die als erste in die Innenstadt vordrangen, trafen nur auf geringen Widerstand. Amerikanische Infanterie folgte südlich hinter den französischen Panzern und beseitigte vereinzelte deutsche Widerstandsnester."
Dies trifft jedoch nicht auf alle Teile der Stadt zu. Andernorts toben in Strassburg heftige Strassenkämpfe. Gleichzeitig greifen grössere Einheiten der Forces Françaises de l’Intérieur (FFI) im Stadtzentrum die deutschen Truppen an. Sie versuchen, die Rheinbrücken nach Kehl zu blockieren, um den deutschen Rückzug zu verhindern. Um die Zerstörung der historischen Stadt und ihres berühmten Münsters zu vermeiden, ordnet General Leclerc den Verzicht auf Artilleriebeschuss an.
Während einige französische Panzer direkt in die Stadt einmarschieren, umgeht ein anderer Teil der mobilen Truppen Strassburg im Südwesten und stösst durch die oberelsässische Ebene in Richtung Erstein vor. Ziel ist es, möglichst rasch die Verbindung mit den bei Colmar kämpfenden Einheiten der französischen Ersten Armee herzustellen und so die Einkesselung der Vogesen abzuschliessen.
Zwischen Strassburg und Colmar sind nach einer amtlichen Schätzung rund 50.000 deutsche Soldaten von der Einkreisung bedroht. Deutsche Truppen unter General von Blaskowitz versuchen verzweifelt, einen Rückzugskorridor über den Rhein zwischen Colmar und Strassburg offen zu halten. Die Deutschen versuchen zudem, sich über den Rhein nach Deutschland zurückzuziehen. Dazu laufen die Vorbereitungen für diesen Rückzug bereits auf Hochtouren. Überall werden Pontons und Flussschiffe aller Art zusammengezogen, um die Truppen über den Strom in Sicherheit zu bringen.
Stabsoffiziere unter General Delattre de Tassigny zeigen sich jedoch zuversichtlich und äussern die feste Überzeugung, dass der Gegner seinem „Dünkirchen am Rhein“ nicht entkommen werde.
Die amerikanische Siebte Armee unterstützt den Vorstoss der Franzosen, indem sie nordöstlich von Saverne gegen Hagenau Druck ausübt. Dadurch verhindert sie, dass die deutsche Fünfte Panzerarmee einen Gegenangriff auf die Nordflanke der Franzosen bei Strassburg startet. Gleichzeitig entsteht durch die Zusammenarbeit der Siebten und Dritten Armee am Oberlauf der Saar eine zusammenhängende, verkürzte Angriffsfront.
Grenze St. Louis / Basel
Kampfgeschehen in der Elsässischen Grenzregion
Noch immer tobt der Krieg in der elsässischen rechten Grenzregion bei Basel, wenn auch in der vergangenen Nacht die Intensität etwas nachgelassen hat. Im Verlauf der Nachmittagsstunden konnte man einen weiteren Panzerwagenangriff verfolgen, der sich nur knapp 200 Meter von der Landesgrenze entfernt abspielte.
Durch das vom neu eingesetzten Bürgermeister von St. Louis erlassene Ausgehverbot sind die Strassen in St. Louis buchstäblich menschenleer. Nur an der Grenzübergangsstelle stehen die Wachen. Ununterbrochen donnern im westlichen Hügelgelände die französischen Batterien, und nach einigen Sekunden rollt vom Tüllinger Hügel das Echo der Granateinschläge über den Rhein. Plötzlich tauchen rechts von der Gardemobile-Kaserne zwei Panzerwagen auf. Ihr Tarnungsanstrich passt sich dem Gelände an, und nur das Rattern der Motoren verrät ihre Nähe. Schon kracht der erste Schuss. Drüben an der Strasse nach Hüningen, vor einem kleinen Haus, zwischen der „alten Schiffmühle“ und der früheren Geigyschen Fabrik, wirbelt Staub auf – zuerst auf der Strasse, dann links und nachher rechts. Ein deutscher Spähtrupp der Hüninger Besatzung soll sich dort auf die Lauer gelegt haben.
Der andere Panzerwagen feuert ebenfalls. Sein erster Schuss trifft das Dach eines Gebäudes; roter Ziegelstaub wirbelt auf. Aber nichts regt sich. Es scheint, als ob Hüningen ausgestorben wäre. Und doch weiss man, dass sich dort neben der Besatzung noch viele Bewohner aufhalten. Sie verbringen den Tag in ihren verschlossenen Häusern und steigen, wenn die Beschiessung anfängt, in ihre Keller. Rund 2000 Panzergranaten pfeifen über das freie Feld und schlagen ein.
Nach diesem Feuerüberfall fahren die Panzerwagen ab, tauchen jedoch im nächsten Augenblick an einer anderen Ecke der Kaserne wieder auf und schleudern von dort aus ihre Granaten auf die Hüningerstrasse. Dann verschwinden sie völlig aus dem Gesichtsfeld, noch bevor ihnen das Minenwerferfeuer aus dem deutschen Brückenkopf etwas anhaben konnte.
Über dem Kampfgebiet ist die Dämmerung hereingebrochen. Weiter hinten aber donnern die Geschütze. Ihre Rohre richten sich noch immer gegen die gleichen Ziele: den Bahnhof und den Bahndamm von Weil Leopoldshöhe und Haltingen. Plötzlich kracht es aber auch links und rechts an der Einmündung des Süninger Kanals in den Rhein und in der Nähe der katholischen Kirche von Hüningen. Man zählt nur einige wenige Einschläge; dann kehrt Ruhe ein.
Französische Truppen am Grenzübergang Lysbüchel im Gespräch mit Schweizer Soldaten - Foto Privatarchiv Patrick Schlenker
Im Kampfraum zwischen St. Louis und Hüningen hat den ganzen Freitag über bis spät in den Nachmittag hinein Ruhe geherrscht. Einzig in der Gegend von Mulhouse gab es derart schweres Artillerietrommelfeuer, dass selbst der Basler Seismograph Einschläge wie Erschütterungen eines Erdbebens registrierte. Gegen Mittag und in den frühen Nachmittagstunden schossen die deutschen Truppen Minenwerfer auf St. Louis. Bei dieser Gelegenheit gab es einige Verletzte, darunter eine ältere Frau und ein junger Mann, die in einem ehemaligen deutschen Sanitätsauto zur ärztlichen Behandlung nach Basel verbracht wurden. In St. Louis selbst beschränkt sich das Ausgehverbot nun täglich von 12 Uhr bis 6 Uhr am nächsten Morgen.
Aspach, Morschweiler und Giromagny befreit
Bei der Ersten Französischen Armee, 24. November (Reuter). Trotz des schlechten Wetters haben die Franzosen weitere Fortschritte erzielt. Sie haben Morschweiler in der Gegend von Mulhouse, Aspach nördlich Altkirchs und Giromagny nördlich Belforts befreit.
Die Deutschen schlagen sich um ihr Leben, so fasst der Londoner Korrespondent von „Dagens Ryheter“ einen militärischen Kommentar der englischen Wochenzeitung „Spectator“ zusammen.
Vom deutschen Standpunkt aus sei es jetzt das wichtigste Problem, sich vom Gegner rechtzeitig loszulösen, um sich ungefährdet zurückziehen zu können. Es sei unzweifelhaft ein Vorteil für die Alliierten, wenn die Deutschen auf dieser Seite des Rheins eine Entscheidungsschlacht akzeptieren, aber es sei beinahe undenkbar, dass das OKW ein solches Risiko auf sich nehmen werde, wenn es dies noch vermeiden könne. Alles komme jetzt darauf an, die deutsche Tankwaffe vernichtend zu besiegen. Man habe sicherlich die entscheidende Phase des Feldzuges gegen Deutschland erreicht.
Auch nach der Stimmung zu urteilen, die in hiesigen deutschen Kreisen herrscht und die der deutschen Gesandtschaft nahesteht, wird die militärische Lage Deutschlands allgemein als hoffnungslos beurteilt. Auch bei leitenden Stellen der Nationalsozialistischen Partei mache sich eine zunehmende Depression bemerkbar.
Mit der Verschlechterung der militärischen Situation soll auch das Geheimnis des Schweigens Hitlers zusammenhängen, das in hiesigen politischen Kreisen immer wieder zu neuen Spekulationen und Gerüchten Anlass gibt. Auf alliierter Seite habe sich die Auffassung verstärkt, dass der deutsche Kanzler entweder ernstlich erkrankt oder durch die extremistische Gruppe der Partei unter Führung Himmlers vollständig entmachtet worden sei.
Grenzübergänge
Nachdem seit dem 23. November jeglicher Verkehr auf den Strassen in St. Louis untersagt wurde, sind seitdem keine Flüchtlinge mehr an der Grenzübergangsstelle beim "Lysbüchel" eingetroffen.
Mittlerweile hat die Zahl der in der Basler Migrationsunterkunft untergebrachten Zivilpersonen aus der elsässischen Grenzzone eine leichte Abnahme erfahren, da einige Hundert von ihren Verwandten in Basel oder anderswo aufgenommen wurden, so dass sich gestern Abend dort noch etwa 2000 Personen befanden.
Fahrzeug des Roten Kreuzes am Grenzbergang Lysbüchel - Foto Staasarchiv Basel BSL 1013 1-24 1 - Kolorierung Patrick Schlenker
In den letzten Tagen haben sich ungezählte Flüchtlinge, die hauptsächlich aus Mulhouse stammen, nach der Schweizer Grenze begeben. Sie legten grösstenteils die mehr als 40 Kilometer lange Strecke zu Fuss zurück, wichen dem Gefechtslärm aus und hatten sich im hinteren Birsigtal in Leimen vereinigt, um dort auf die Bewilligung zum Grenzübertritt auf Schweizer Boden zu warten. Da für sie dort jedoch keine unmittelbare Gefahr bestand, konnte aus begreiflichen Gründen ihrem Ansuchen nicht entsprochen werden. Als sie jedoch unter bitterer Not zu leiden begannen, nahm sich Regierungsrat Dr. H. De Schwind in Therwil ihrer an. Dabei wurde festgestellt, dass die Lebensmittelversorgung in Leimen zwar beschränkt, jedoch nicht besorgniserregend ist. Trotzdem ist erstmals die Schweizer Spende beider Basel in Aktion getreten. Im Verlauf des gestrigen Tages wurden in Basel 2000 Portionen Brot, Milch, Suppe und Tee hergerichtet und auf einen Lastwagen verladen. Zwei Dutzend freiwillige Helfer unterstützten die Aktion.
Territorial-Kommando Basel
Auch in dieser Nacht kam es zu Schäden durch Beschuss durch franz. Truppen.
Um 02:15 Uhr kam es zu Schäden an der Liegenschaf der Hegenheimerstrasse 43 und Lothringerstrasse 98.
Die Grenztruppen mussten mehrere Zivilersonen von der Grenze wegweisen, die verscht hatten, die Kampfahndlungen aus der Nähe zu betrachten.
Am Nachmittag jagen zwei unrichtig visierte Geschosse über das Ziel hinaus und explodieren abermals am Siloturm im Kleinhüninger Hafengebiet. Bereits bei einem ähnlichen Angriff zur gleichen Stunde sind vier Granaten herübergekommen: zwei landeten in einem Kohlenhaus der Gasfabrik, ein drittes traf eine Kleinhüninger Kiesgrube, und ein weiteres krachte ebenfalls gegen den Siloturm. Um 05:15 Uhr explodierte ein Artilleriegeschoss beim Grenzwachtposten nahe dem Hafenbecken II im Kleinhüninger Rheinbereich.
Gaskessel der Gaskohlerei Kleinhüningen mit überdimensionalem Schweizerkreuz - Foto Staatsarchiv Basel BD-REG 11b 1-7 1-2 - Kolorierung Patrick Schlenker
Aus den Berichten der Schweizer Armee ist Folgendes für den 24.11.1944 zu entnehmen:
09:00 Uhr: Kdt. Besprechung mit Regierungspräsident Brechbühl
10:30 Uhr: Rundgang mit Regierungspräsident Brechbühl und Regierungsräten aus den Kantonen Freiburg, Schwyz, Genf und Luzern. Besuchen Lysbüchel, Flüchtlingslager MUBA und Rheinfelden.
18:00 Uhr: Rapport des Stabes Ter. Kdo. Basel.